Mein lieber Roger,
Du weisst, wie begrenzt meine Kraft ist; jeden Tag schwindet sie etwas;
und doch denken viele, ich sei stark, nur weil ich noch eine Stimme habe
und weil, wenn ich zur Überzeugung gelange, eine Sache sei ungerecht
und falsch, ich auch wieder zu Kräften komme, die sich dann aber bald
wieder erschöpfen.
Verzeih, wenn ich so viel von mir spreche, doch muss ich Dir und all jenen,
die Du von diesem Brief in Kenntnis zu setzen für nützlich erachten
wirst, erklären, warum ich, trotz der Gespräche am Telefon, so
lange gebraucht habe, meine Gewissheiten, was Dich und Deine Person, die
ich seit fünfzig Jahren kenne, und Deine Taten -- von den ganz persönlichen
bis hin zu denen, die von grösster Bedeutung für Frankreich waren
-- anbelangt, der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Seinerzeit warst Du für mich der erste kommunistische Abgeordnete
gewesen, bei dem ich mich der Auseinandersetzung zu stellen hatte; und
die Erinnerung daran ist mir bis heute wach geblieben, denn es war, so
glaube ich, für jeden von uns gewinnbringend.
Dein jüngstes Buch ist mir zugegangen, als ich wirklich der Erschöpfung
nahe war, da mich andere dringende Aufgaben beschäftigten. Ich kann,
mit meinen dreiundachtzig Jahren, kaum noch etwas von dem lesen, was mir
zugeht, da ich morgens und nachmittags nur je zwei Stunden habe, in denen
ich wirklich arbeiten kann.
Du weisst, meine Gedanken zu dieser erschütternden tausendjährigen
Tragödie um Israel, die kein Ende findet, reifen seit vielen Jahren,
und Du weisst auch, dass diese Gedanken weit über die in unserem Jahrhundert
geschehene Tragödie hinausgehen. Wir haben über diesen Gegenstand
bereits ernsthafte Gespräche geführt. Es wird Dich interessieren,
dass ein unter seinen Brüdern grosses Ansehen geniessender Rabbiner
den Wunsch geäussert hat, ein Gespräch mit mir über diesen
Gegenstand zu führen. Es wird, so hoffe ich, sehr bald dazu kommen.
Sowohl angesichts des Grundlegenden seines Gegenstandes, als auch der Gelehrsamkeit
und der Gewissenhaftigkeit wegen, mit denen Du, wie ich es beim Durchsehen
bemerken konnte, alle Aussagen und Behauptungen belegst, ist es mir nicht
möglich, mit der dafür erforderlichen Sorgfalt auf Dein Buch
einzugehen. Mir vertraute Personen, die von grosser Kompetenz sind und
mit hohem Anspruch Dein Buch in Gänze gelesen haben, sprachen mir
von der Bedeutung dessen, was sie ihm entnehmen konnten. Es muss alles
getan werden und ich werde mich dafür einsetzen --, damit bald echte
Historiker, die von der gleichen Leidenschaft für das Wahre erfüllt
sind wie Du es bist, sich bereit finden, mit Dir in eine Diskussion zu
treten.
Die Beschimpfungen gegen Dich, von denen ich erfahren habe (sogar von einer
Tageszeitung vorgetragen, die ich für die sonst von ihr gewohnte Sachlichkeit
sehr schätze) und mit denen Du von allen Seiten überschüttet
wirst, sind für all jene entehrend, die sich -- vielleicht unüberlegt
-- an ihnen beteiligen.
Mit diesem Brief möchte ich versuchen, zwei Überzeugungen öffentlich
darzulegen: Die eine, für die ich wenige Worte benötige, betrifft
Deine Person; und die andere -- mit Sicherheit noch unvollkommen ausgedrückt
-- betrifft die Folge all der historischen Geschehnisse, von denen mir
ein Bild zu machen ich mein ganzes Leben als Mann des Glaubens und der
Liebe verbracht habe, und auf die sich -- daran denke ich mit Trauer --
der wunderbare (doch seit so lange Zeit schon auf sich selbst zurückziehende)
Glaube dieses Volkes, meiner Brüder, beschränkt, ohne dass es
sich je davon bewusst geworden wäre, dass er es zu einer grösseren
und erhabeneren Mission riefe.
Die Vorsehung hat mir, in anderen Zeiten (die mir noch so nahe sind), gegeben,
denen, wann immer ich es konnte, unter von mir willentlich eingegangener
Gefahr für mein Leben helfen zu können, die es bedurften. Daher
verfolge ich mit besonderer Aufmerksamkeit all das, was, sie anbelangend,
überall und scheinbar endlos, so viel Schmerz bei ihnen verursacht.
Was Dich und Dein Leben betrifft, reichen wenige Worte aus: Du bist einer
derjenigen, die, bis an den Tag, da sie der Unendlichen Liebe gegenüberstehen
werden, von einem unersättlichen Hunger nach dem Absoluten gequält
sind. Ich bedaure all jene, die schon zur nächsten Skandalmeldung
eilen oder schlicht zu oberflächlich sind, Deine Arbeit und Deine
Art, mit der Du Dein Leben lang das Göttliche, und sei es bruchstückhaft,
in allen geistigen Ausrichtungen, in die sich die Menschen der ganzen Erde
und aller Jahrhunderte in aller Aufrichtigkeit teilen (und die manchmal,
in Verwirrung, zu Kriegen führen), zu greifen und zu veranschaulichen
suchtest, achten und schätzen zu können.
Mich zittert vor Schmerz und ich fühle grosse Bestürzung, will
ich von der anderen meiner Überzeugungen sprechen, die den jüdischen
Anteil an der Menschen Welt betrifft. Alles begann für mich mit dem
furchtbaren Schock, der mich traf, als ich, nach Jahren theologischer Studien
und für mich selbst weiter etwas Bibelstudium betreibend, das Buch
Josua entdeckte. Schon vorher hatte mich eine schwere innere Unruhe ergriffen,
als ich las, wie Mose, die Gesetzestafeln bringend, auf denen doch Du sollst
nicht töten!" stand, das goldene Kalb erblickte und das Massaker
an dreitausend Menschen seines Volkes befahl. Doch mit Josua -- sicher
Jahrhunderte nach den Ereignissen berichtet -- wurde ich gewahr, wie eine
regelrechte Shoah auf alles Leben im verheissenen Land" niederging.
Da hat es in mir geschrien: Wenn ich dir mein Auto verspreche, und Du in
der Nacht den Wachter töten, die Tür eintreten und dich des verheissenen
Autos bemachtigen kämest -- was bliebe dann noch von der 'Verheissung
' ?"
Wird nicht jede Grundlage einer Verheissung durch Gewaltanwendung zerstört?
Sicher besteht danach, unaufhörlich und immer wieder beschworen, der
Bund mit dem Volk weiter, das den Begriff des Einen Unendlichen für
sich -- wenn auch nicht exklusiv, so doch als ein Volk in seiner Besonderheit
-- erkannte; wenn es dessen Wesen auch noch nicht vollkommen als in der
Liebe bestehend erfasst hat. Letzteres offenbarte mir Jesus, der Gründer
des dreieinigen Glaubens: Deus caritas est.
Doch ist dieser Bund immer noch einzig für diesen Flecken der
Welt gultig, den man noch, nicht etwa verheissenes", sondern heiliges
Land" nennen kann und muss, voller Verbrechen, aber auch heiliger
Propheten?
Ich kann nicht mehr nur diesen Flecken, um dessen Besitz heute immer noch
so viele kämpfen und sterben, als von Gott verheissen ansehen
(auch wenn man Ihm den Befehl zum Massaker zuschreibt -- liegt aber nicht
darin eine Beleidigung Gottes?).
Bedeutet der Bund nicht den Auftrag an ganz Israel, den Glauben, den es
ersonnen hat, der ganzen Erde zu bringen? Das verheissene Land gehört
jedem Gläubigen (also auch jedem Juden). Ich kann nicht von dem Gedanken
lassen, die ganze Erde von der Freude des Wahren Gottes wissen zu lassen.
Oh wäre ich noch jung und konnte mit meinen Brüdern die Erfüllung
der zuerst in Israel und dann durch Jesus erhaltenen Mission in Angriff
nehmen!
Ich weiss durchaus, dass Israels Rückzug auf sich selber, sein Verzicht
auf weitere Mission, zu einem Teil von der seltsamen Wendung verursacht
wurde, die die Geschichte durch Konstantin nach dem Edikt von Mailand und
den unheilvollen Folgen, die seine Wohltaten begleiteten, nahm. Wir hören
von einer Absicht des Papstes, sich im Jahre 2000 (wird es dann noch derselbe
sein?) zu den Fehlern in der Geschichte, die im Eifer der christlichen
Missionierung gemacht worden sind, zu bekennen.
Ist es denkbar, dass er die Rede vom Volk der Gottesmörder" --
eine Formulierung, die kaum Sinn macht, hat Jesus sich doch für alle
geopfert- und deren Anteil am Antisemitismus unterschätzt?
Aus jener Zeit stammen auch die verheerenden sogenannten privilegierten
Strukturen, die Verbindungen der Fürsten mit den Bischöfen, der
Päpste mit den Königen; ursprünglich erdacht, dem Niedergang
des Imperiums gegenzusteuern, traten diese an Stelle der schliesslich verbotenen
Märtyrer: Es folgten Missbräuche aller und schwerster Art, resultierend
aus der Vermengung von Geistlichem und Irdischem.
Roger, über all das mussen wir zwei alten Männer noch sprechen
und andere, weiser als ich, befragen.
Ich bitte Dich, entnimm diesen fast unleserlichen Zeilen, die wir gemeinsam
am Telefon lesen werden, die Kraft und die Treue meiner Liebe und meine
Achtung für die riesige Arbeit Deines neuen Buches.
Es mit dem in Verbindung zu bringen, was man Revisionismus" nennt,
ist ein Betrug und eine Beleidigung, begangen von Unwissenden.
Ich umarme Dich und versichere Dir, dass Du und die Deinen mir jeden Tag,
der mir gegeben ist, den geringen Einsatz, den ich noch zu leisten vermag,
zu vollbringen, nahe seid.
Dein Bruder
Abbé Pierre
geschrieben am 15. April 1996
überstezt und herausgegeben in SLEIPNIR, Zeitschrift für
Kultur, Geschichte und Politik , Berlin, 2. Jg., Heft 3, Mai/Juni 1996,
S. 1 und 2.
(Postfach 350264, 10211 Berlin)